Ergebnisse der ersten schweizweiten Umfrage zum Vollzug der «Gemeinnützigen Arbeit»

Praxisentwicklung

Christoph Urwyler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachwissen & Analyse, SKJV & Fabio Scascighini, Chef du Secteur PMO, Amt für Justizvollzug und Bewährungshilfe JVBHA, Fribourg

Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten sowie Geldstrafen oder Bussen können als gemeinnützige Arbeit vollzogen werden. Sie gilt als sozial konstruktive Vollzugsform mit hohem Resozialisierungs- und Integrationspotenzial. Mit der gemeinnützigen Arbeit leistet der Verurteilte einen positiven Beitrag an die Gesellschaft und bleibt sozial integriert, während er im Freiheitsentzug in erster Linie Kosten verursacht und entsozialisiert wird. Die am 1. Januar 2018 in Kraft getretene StGB-Revision hat wichtige Veränderungen bezüglich der Anordnung und des Vollzugs der gemeinnützigen Arbeit gebracht. Eine Umfrage des Freiburger Amts für Justizvollzug und Bewährungshilfe (JVBHA) zeigt, wie sich diese Veränderungen auf die Praxis ausgewirkt haben. 

Die Gemeinnützige Arbeit (GA) wurde in den 1990er-Jahren als besondere Vollzugsform eingeführt und bis ins Jahr 2006 von den zuständigen Vollzugsbehörden relativ häufig eingesetzt. Mit der Revision des Strafgesetzbuches (StGB) im Jahr 2007 wurde die GA in den Rang einer Hauptsanktion erhoben (neben der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe). Damit verlagerte sich die Anordnungskompetenz von den Vollzugsbehörden zu den Gerichten. Die «Verrichterlichung» und «die damit einhergehende Formalisierung der Anordnung und Umwandlung der gemeinnützigen Arbeit» (Brägger 2022) hat in der Praxis zu einer Abnahme der Fallzahlen geführt. Aufgrund dieser negativen Erfahrung wurde die gemeinnützige Arbeit (Art. 79a StGB) seit dem 1.1.2018 wiederum als besondere Vollzugsform ausgestaltet, für deren Anordnung und Umsetzung die kantonale Vollstreckungsbehörde zuständig ist. 

Wie hat sich die Wiedereinführung der gemeinnützigen Arbeit als besondere Vollzugsform auf die Praxis ausgewirkt? Zu dieser Frage hat das Freiburger Amt für Justizvollzug und Bewährungshilfe (JVBHA) eine Umfrage2 bei den Kantonen durchgeführt. Diese gibt Aufschluss darüber, wie die gemeinnützige Arbeit in der Praxis umgesetzt wird und welche rechtlichen und institutionellen Faktoren die Anwendung beeinflussen. Hierbei wird auch sichtbar, dass aufgrund der kantonal unterschiedlichen Umsetzung die verurteilten Personen nicht überall die gleichen Chancen haben, von dieser besonderen Vollzugsform zu profitieren.

Gemeinnützige Arbeit Gruppe auf dem Feld

Ungleiche Berechnungsweisen der GA

Im Grundsatz kann gemeinnützige Arbeit nur bewilligt werden, wenn die ausgefällte Freiheitsstrafe nicht mehr als 6 Monate (=180 Tage) beträgt. Dies entspricht einer GA-Höchstdauer von 720 Stunden (1 Tag Freiheitsstrafe = 4 Stunden GA). In der Praxis erfolgt diese Berechnung allerdings nicht einheitlich, was sich auf die Anwendungshäufigkeit auswirkt: Fast die Hälfte der 24 Kantone, die an der Umfrage teilgenommen haben, erlaubt bei Kumulierung zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe eine Überschreitung der Höchstdauer von 720 Stunden, sofern die Freiheitsstrafe nicht mehr als 6 Monate ausmacht. Dazu kommt, dass die lateinischen Kantone die Dauerberechnung im Falle von teilbedingten Strafen allein auf den unbedingten Teil stützen (Netto-Prinzip), während die Konkordate der Deutschschweiz hierbei auf der Gesamtdauer abstellen (Brutto-Prinzip). Je nach dem, fällt der Kandidatenkreis für die gemeinnützige Arbeit in den Kantonen grösser oder kleiner aus. Zu bedenken ist hierbei noch ein weiterer Faktor: Die gemeinnützige Arbeit ist für den Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafegrundsätzlich ausgeschlossen (Art. 79b Abs. 2 StGB). Dennoch gestatten gewisse Kantone unter bestimmten Voraussetzungen oder zum Teil auch regelmässig den (Ersatz-)Strafvollzug in Form der GA, was deren Anwendungsmöglichkeiten entsprechend ausweitet.

Kommunikation und Zugang

Soweit zu den Berechnungsmethoden. Ein zweiter Faktor, der die Zugangsschwelle zur GA beeinflussen kann, ist die Art und Weise, wie die verurteilte Person über diese Vollzugsoption informiert wird. Dieser Hinweis erfolgt je nach Kanton entweder nur im Urteil, bei Geldstrafen auch in der Rechnung, die mit dem Urteil versandt wird, oder indem die Vollzugsbehörde mit den verurteilten Personen Kontakt aufnimmt. Je direkter und transparenter die Kommunikation, desto eher dürfte sich eine verurteilte Person für eine GA entscheiden. Die Gesuchsstellung kann noch durch einen weiteren Aspekt erleichtert werden: So erlauben 20 Kantone eine Gesuchseingabe auch durch eine (i.d.R. bevollmächtigte) nahestehende Person, was insbesondere bei fremdsprachigen Verurteilten eine hilfreiche Alternative sein kann. 

Welche verurteilten Personen können GA beantragen?

In einem Vorgespräch kann die persönliche Eignung und Motivation der gesuchsstellenden Person abgeklärt werden, was sich tendenziell positiv auf die Zahl der durchgeführten und tatsächlich erfolgreich abgeschlossenen GA-Einsätze auswirken sollte. Hierbei gestaltet sich die Praxis jedoch unterschiedlich: Nur sieben Kantone laden in jedem Fall zu einem Abklärungsgespräch ein; bei den übrigen Kantonen hängt die Durchführung von der Anzahl Einsatzstunden ab, in einigen Kantonen von der ausgefällten Sanktion oder der Legalbiographie der Person. 

Da eine GA nur bewilligt werden kann, wenn keine Flucht- und Rückfallgefahr besteht, nehmen die Vollstreckungsbehörden gestützt auf das Gespräch und den Strafregisterauszug eine entsprechende Prüfung vor. Ausserdem wird über Stellen wie die regionale Arbeitsvermittlung (RAV) oder die Invalidenversicherung (IV) abgeklärt, ob die antragstellende Person zu einer Arbeit überhaupt berechtigt bzw. fähig ist. In den allermeisten Kantonen treten die Behörden auch bei Personen mit einer vollen IV-Rente auf ein GA-Gesuch ein und vermitteln die Person entweder an einen regulären Einsatzbetrieb oder an einen Einsatzbetrieb, der speziell für Personen mit IV-Status geeignet ist. Dies fördert wiederum eine möglichst breite Anwendung der GA. Hinderlich und auch nicht im Sinne des Gesetzeswortlauts ist dagegen die (vereinzelt) anzutreffende Praxis, Personen allein aufgrund ihres Anlassdelikts die GA zu verwehren.

In Bezug auf eine gültige Aufenthaltsbewilligung als Voraussetzung für eine GA ist sich die Praxis uneinig. In der Deutschschweiz wird dies – gemäss einer einschlägigen Konkordatsregelung – als zwingend erachtet; dagegen erlaubt das lateinische Konkordat gestützt auf einen neuen Bundesgerichtsentscheid (BGE 145 IV 10) die Bewilligung einer GA auch bei illegal aufhältigen Ausländerinnen und Ausländern. Diese liberalere Praxis hat sich bei den Westschweizer Kantonen indes noch nicht flächendeckend durchgesetzt.

Die beantragten GA werden in der Regel gutgeheissen: Je nach Kanton variiert dieser Anteil zwischen 78 und 100 Prozent. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Freiheitsstrafe oder um eine Geldstrafe/Busse handelt.

Einsatzbetriebe

Bei den Einsatzbetrieben handelt es sich zumeist um gemeinnützige Stiftungen oder Vereine, die als solche öffentlich- oder privatrechtlich anerkannt sind. Daneben beauftragen die Kantone auch Aktiengesellschaften, die Zwecke des öffentlichen Dienstes verfolgen, oder auch Privatunternehmen, die im Auftrag einer gemeinnützigen Institution tätig sind. Einzelne Kantone verfügen ferner über spezielle Strukturen, die eigens zum Zweck der GA zur Verfügung stehen. Von der in Art. 79a Abs. 3 StGB vorgesehen Möglichkeit, Einsätze bei hilfsbedürftigen Personen zu organisieren, machen dagegen nur zwei Kantone Gebrauch.

Die Bewilligung einer GA hängt auch vom Angebot an Einsatzbetrieben ab. Die Hälfte der Kantone verfügt über ein Netz von bis zu 50 Einsatzbetrieben bzw. 10 Betrieben, mit denen sie regelmässig (>5 Fälle pro Jahr) zusammenarbeiten. Für ihre Dienste und die daraus entstandenen Umtriebe werden die Betriebe indes nur von einer Minderheit der Kantone entschädigt. Der Einsatzbetrieb wird also nur durch die geleistete Arbeit der verurteilten Person entschädigt. Für viele Betriebe scheint diese Bilanz nicht ausgeglichen, denn die Rekrutierung von neuen Einsatzbetrieben erweist sich häufiger als schwierig. Besonders herausfordernd gestaltet sich die Rekrutierung von Betrieben, welche Einsätze für Personen mit körperlichen oder psychischen Problemen sowie IV-Renten anbieten.

küche

Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz

«Aufgrund der teilweise doch sehr hohen Einsatzstunden und der langen Einsatzdauer muss der konkreten Umsetzung des Vollzuges der Arbeitsleistung ein besonderes Augenmerk geschenkt werden, will man häufige oder gar unnötige Abbrüche vermeiden.» (Brägger, 2022) Dazu sollten die Kantone über Betreuungspersonal verfügen, welches die Einsätze vor Ort kontrollieren und die notwendige Betreuung sicherstellen kann. In der Praxis stellen derartige Kontrollen und Gespräche freilich nicht die Regel dar. Sie werden durchgeführt, wenn es «die Umstände erfordern», was je nach Kanton zwei bis dreissig Prozent der Fälle betrifft; jeder dritte Kanton verzichtet sogar ganz auf derartige Gespräche. Auch auf Standortgespräche mit den Einsatzbetrieben verzichtet fast die Hälfte der Kantone. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine solche Betreuung oder Kontrolle nicht in jedem Fall erforderlich ist, legen diese Befunde nahe, dass der in der Literatur formulierte Qualitätsanspruch in der Praxis nicht vollständig verwirklicht ist. 

Als wichtige Neuerung brachte die StGB-Revision die Möglichkeit der bedingten Entlassung (Art. 86 StGB) aus der GA, sofern diese anstelle einer Freiheitsstrafe angeordnet wurde. Im Vergleich zur früheren Regelung, die keine solche Möglichkeit vorsah, hat die GA – besonders bei längeren Strafen bzw. Arbeitseinsätzen – folglich an Attraktivität gewonnen. Die Gewährung der bedingten Entlassung stellt denn auch in praktisch allen Kantonen die Regel dar. 

Gemeinnützige Arbeit ist auf Kurs, hat aber noch Potential

Seitdem die Anordnung und der Vollzug der gemeinnützigen Arbeit wieder an die Vollstreckungsbehörden übertragen worden sind, haben die Fallzahlen zugenommen und die Zahl der abgebrochenen Einsätze ist gesunken. Diese erfreulichen Befunde korrespondieren mit einer umsichtigen und liberalen Anordnungs- und Vollzugspraxis der Kantone, wie sie die Umfrage des JVBHA offenbart hat. 
Daneben gibt es Potentiale, die für eine breitere Anwendung der GA ausgeschöpft werden könnten:

  • eine intensivere Bekanntmachung der Möglichkeit, Strafen als GA zu vollziehen, bei den verurteilten Personen;
  • vereinfachte Modalitäten der Gesuchsstellung und deren Behandlung durch die Vollstreckungsbehörde; 
  • eine vermehrte Rekrutierung von gemeinnützigen Einsatzbetrieben mit anderen Rechtsformen, sowie Ausweitung der Arbeitseinsätze für hilfsbedürftige Personen.

Aus Gründen der Rechtsgleichheit wäre schliesslich zu wünschen, dass die Kantone zu einer einheitlicheren Anwendungspraxis finden, namentlich in Bezug auf die Anwendung bei illegal aufhältigen Ausländerinnen und Ausländern.

Um die Zahl der Abbrüche zu reduzieren und mithin die Chance auf Wiedereingliederung zu erhöhen, sollten mehr Personen während ihres Arbeitsvollzugs begleitet werden. Dies ist heute eher die Ausnahme als die Regel. Und da aus Sicht der Vollzugsbehörden nicht nur die Arbeitsleistenden, sondern ebenso die Einsatzbetriebe von der GA profitieren sollten, wären Massnahmen vorzusehen, um das im Kanton verfügbare Netz von geeigneten Einsatzbetrieben zu vergrössern, insbesondere von solchen, welche Personen mit physischen oder psychischen Handicaps aufnehmen. 

Das Freiburger Amt für Justizvollzug und Bewährungshilfe hat mit seiner Umfrage die Anwendungspraxis der gemeinnützigen Arbeit in den Kantonen umfassend und detailliert beleuchtet. Dabei ist klar geworden, dass die Gesetzesrevision von 2018 und die positive Einstellung der Vollstreckungsbehörden gegenüber der Vollzugsform der gemeinnützigen Arbeit den Weg erneut geebnet haben für eine breitere Anwendung dieser wichtigen Alternative zum kustodialen Strafvollzug. Die Einblicke in diese Vielfalt kann für die Praktikerinnen und Praktiker eine wertvolle Grundlage zur Reflexion ihrer Tätigkeit darstellen und ihnen auch Entwicklungsperspektiven aufzeigen.

1 Hauptsanktionen sind Freiheitsstrafen, Geldstrafen, therapeutische Massnahmen und Verwahrung. Über die Sanktion entscheidet das Gericht. Sanktionen können in verschiedenen Formen vollzogen werden (Gemeinnützige Arbeit, Electronic Monitoring, geschlossener oder offener Vollzug). Über die Sanktionsform der unbedingt zu vollziehenden Sanktion entscheidet die Vollzugsbehörde.

Siehe: https://www.fr.ch/dsjs/sespp/actualites/2021-swiss-tig-survey-rapport-final

Eine Ersatzfreiheitsstrafe ist eine Freiheitsstrafe, die vollzogen wird, wenn eine vom Gericht verhängte Geldstrafe nicht gezahlt wird.