«Prison health is public health»

Ahmed Ajil, Kriminologe, Universität Lausanne
Nora Affolter, wissenschaftliche Mitarbeiterin SKJV

«Prison health is public health» - Gesundheit in Haft ist auch öffentliche Gesundheit. Einerseits weil sich weltweit mehr als 11 Millionen Menschen in Haft befinden. Und der Grossteil von ihnen findet früher oder später wieder den Weg in die Freiheit. Andererseits weil inhaftierte Personen Anrecht auf denselben Zugang zur Behandlung von Krankheiten und zur Gesundheitsförderung haben wie die übrige Bevölkerung (Äquivalenzprinzip). 
Zwei Berichte, die jüngst veröffentlicht wurden, untersuchen, wie gut das Prinzip in der hiesigen Praxis verankert ist und zeigen Verbesserungspotential auf.

In der Schweiz ist die Gesundheitsversorgung von individuellen Entscheidungen geprägt: von der Wahl des passenden Krankenversicherungsmodells bis hin zur freiwilligen Beanspruchung von gesundheitsfördernden Massnahmen der Komplementärmedizin. Wenn der Staat einem Menschen jedoch die Freiheit entzieht, entzieht er der Person ebenjene Entscheidungsmacht und muss folglich gewährleisten, dass die individuellen gesundheitlichen Bedürfnisse weiterhin gedeckt werden. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil die Inhaftierung die psychische und körperliche Gesundheit beeinträchtigt.

hände patient und arzt

Rechtliche Grundlagen

Eine inhaftierte Person hat einen gesetzlichen Anspruch auf eine adäquate Gesundheitsversorgung. Handelt es sich um einen strafrechtlichen Freiheitsentzug, gilt der Grundsatz, welcher im Art. 75 Abs. 1 StGB festgehalten ist, und besagt, dass der Freiheitsentzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich zu entsprechen hat. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter konkretisiert das sogenannte Äquivalenzprinzip, welches vorgibt, dass «Gefangene Anspruch auf denselben Grad an medizinischer Versorgung haben wie Menschen in Freiheit.»

In der Bundesverfassung ist das Gebot der Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern – einschliesslich der inhaftierten – verankert (Art. 2 Abs. 3 BV). Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen sehen ebenfalls die Gleichwertigkeit der Behandlung vor. Internationale und nationale Kontrollorgane sowie die Soft Law unterstreichen die Bedeutung der Gesundheitsversorgung in Gefängnissen, nicht zuletzt, weil tendenziell Menschen inhaftiert werden, die in prekären sozio-ökonomischen Verhältnissen leben und die Haft bereits mit multiplen gesundheitlichen Beschwerden antreten.

Das Äquivalenzprinzip auf dem Prüfstand

Jüngst haben sich zwei Berichte mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern das Äquivalenzprinzip in der Praxis bezüglich Versorgung und Gesundheitsförderung gelebt wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte im Februar 2023 einen Statusbericht über die Gesundheitsversorgung in europäischen Gefängnissen, basierend auf einer 2020 durchgeführten Umfrage. 36 Mitgliedsstaaten, darunter auch die Schweiz, nahmen daran Teil und lieferten Angaben zu einer breiten Reihe an Indikatoren. Dazu gehören Strategie, Finanzierung und die institutionelle Verankerung der Gesundheitsversorgung, Massnahmen im Bereich der Prävention, Rehabilitation und Behandlungskontinuität sowie Wirkungsindikatoren zu Gesundheit und Wohlbefinden, Morbidität und Sterblichkeit in Haft. 
Im Mai 2023 veröffentlichte das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), unter Mitwirkung des SKJV, eine Bestandsaufnahme zur Gesundheitsförderung im Freiheitsentzug in der Schweiz. Dafür wurden alle Einrichtungen zu gesundheitsfördernden Angeboten für inhaftierte Personen als auch für die Mitarbeitenden befragt.

Ergebnisse der WHO

Die WHO stellt fest, dass Bemühungen bestehen, die Äquivalenz der Gesundheitsversorgung umzusetzen. Dennoch wurde Verbesserungsbedarf in mehreren Bereichen festgestellt:

  • So sollte das Gesundheitsministerium jeweils umfassend an der Gesundheitsversorgung beteiligt sein, was in der Schweiz teilweise, jedoch nicht in allen Kantonen der Fall ist.
  • Ferner brauche es umfassendere Datenerhebungen: Nur ein Bruchteil der Staaten erhebt systematisch Indikatoren zum Body-Mass-Index (BMI), Bluthochdruck, dem Vorliegen von Tuberkulose oder HIV. 
  • Die Ursachen von Todesfällen müssten ebenfalls systematischer und detaillierter erfasst werden. 
  • Die erhobenen Daten sollten in Informationssysteme eingebettet werden, auf welche Institutionen der Gesundheitsversorgung ausserhalb der Gefängnisse Zugriff haben, um die Behandlungskontinuität verbessern zu können.
  • Die WHO konstatierte zudem, dass ein Missverhältnis bestehe zwischen der Häufigkeit von psychischen Beschwerden unter inhaftierten Personen und der Verfügbarkeit von psychiatrischem Gesundheitspersonal «in-house». 
  • Beim Vorliegen psychischer Beschwerden sollten zudem systematisch und bestimmter Alternativen zur Haft gesucht werden. 
  • Schliesslich brauche es einen niederschwelligen Zugang zu Impfungen, insbesondere gegen den Hepatitis-B-Virus (HBV), aber auch Mumps-Masern-Röteln (MMR) und saisonale Grippen. Gemäss WHO könnte ein Haftantritt als Möglichkeit angesehen werden, den Impfstatus aufzufrischen. 
  • Sowohl der WHO- als auch der SRK-Bericht deuten auf die Notwendigkeit des Ausbaus der Krankenversicherung für inhaftierte Personen hin.

Erstaunlich ist, dass die Mehrheit der Mitgliedsstaaten, die an der WHO-Umfrage teilnahmen, eine Rauchfrei-Politik in ihren Gefängnissen führen (knapp drei Viertel). Obschon vereinzelt auch hierzulande eine Rauchfrei-Politik Eingang findet (z.B. rauchfreie Zellen im Gefängnis Dielsdorf), hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich deutlich hinterher.

Gesundheitsförderung in Schweizer Einrichtungen

Die SRK-Umfrage zeigt sodann spezifisch für den helvetischen Kontext, dass Bemühungen bestehen, gesundheitsfördernde Angebote für inhaftierte Personen auszubauen. So bietet der Grossteil (26/37 der antwortenden Einrichtungen) gesundheitsfördernde Massnahmen an, primär im Bereich Bewegung und Sport, aber auch in der Suchtprävention, Stressregulierung und Entspannung und im Bereich der sexuellen Gesundheit. Es handelt sich meist um universelle Angebote, das heisst solche, die grundsätzlich freiwillig von allen Inhaftierten beansprucht werden können. Die Angebote sind jedoch sehr heterogen und variieren von einer Einrichtung zur anderen. Dass den inhaftierten Personen in 11 Einrichtungen noch keine gesundheitsfördernden Massnahmen zur Verfügung stehen, gibt Anlass zur Besorgnis.

Das SRK stellte zudem fest, dass zwar Informationsmaterialien in den Einrichtungen verteilt werden, jedoch nur im Bereich der Suchtprävention und der sexuellen Gesundheit. Es empfiehlt, die Mehrsprachigkeit der Materialien auszubauen und diese auch für die psychische Gesundheit und bestimmte prävalente Krankheiten anzubieten. Die befragten Einrichtungen wünschen sich zudem mehr personelle und finanzielle Ressourcen für die Gesundheitsförderung als auch spezifische Schulung des Personals in dieser Hinsicht.

Fazit

Zusammenfassend zeichnen die Berichte ein deutliches Bild: Sowohl auf internationalem Niveau als auch in der Schweiz ist das Äquivalenzprinzip in der Praxis noch nicht Realität. 
Die Feststellungen decken sich mit dem Tenor der 12. Europäischen Konferenz für Gesundheitsförderung in Haft, die unter dem Motto «Äquivalenzprinzip im Faktencheck» Ende Mai 2023 in der Schweiz durchgeführt wurde. Eines der abschliessenden Statements der Tagung mit 120 Teilnehmenden aus verschiedenen europäischen Ländern lautete: «Die Versorgung bestimmter Patientengruppen im Justizvollzug ist in den letzten 20 Jahren besser geworden. Aber es gibt noch viel zu tun.»