Die Bedeutung der neusten Revision der ICD für die forensische Praxis

Praxisentwicklung

Nora Affolter und Catharina Geurtzen, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am SKJV

Die International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Die 11. Revision der International ICD (ICD-11) wurde im Mai 2019 verabschiedet und ist seit Anfang dieses Jahres in Kraft (Release: Februar 2022). Welches sind die wichtigsten Änderungen dieser Revision für den Justizvollzug und welche Folgen dürften diese haben?

ICD-11Visual

Der Einfluss der ICD auf die forensisch-psychiatrische Begutachtung ist gross: Diagnosestellung und Differentialdiagnose haben in Anlehnung an ein anerkanntes aktuelles psychiatrisches Klassifikationssystem (ICD, DSM) zu erfolgen. Entsprechend wird diese Revision ICD-11, die zum Ziel hat, spezielle Sachverhalte differenzierter als bisher kodieren zu können und die ICD den Bedürfnissen digitalisierter Gesundheitssysteme anzupassen, Folgen für den Justizvollzug haben. Insbesondere die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen und Impulskontrollstörungen dürften die heutige forensische Praxis wesentlich verändern. 

Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Anstelle der bisherigen kategorialen Klassifikation von spezifischen Persönlichkeitsstörungen wird in der ICD-11 neu eine dimensionale Einteilung vorgenommen. Hauser, Herpertz und Habermayer (2021) beschrieben dies so: Während in der ICD-10 acht verschiedenen Persönlichkeitsstörungen differenziert wurden, die sich auch kombinieren liessen, sieht die ICD-11 nur noch den übergeordneten Begriff „Persönlichkeitsstörung“ vor. Zur diagnostischen Abklärung einer Persönlichkeitsstörung geht man zukünftig folgendermassen vor:

  • Diagnostisch relevante Funktionsbeeinträchtigungen prüfen
  • Das Ausmass dieser Beeinträchtigungen (leicht, mässig, schwer) bestimmen
  • Abschliessend besteht die Möglichkeit, fünf Persönlichkeitsmerkmale (negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit) und optional auch das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeit zu erfassen. 

Die fünf Persönlichkeitsmerkmale müssen, anders als in der ICD-10, nicht mehr im späten Kindesalter bzw. während der Adoleszenz beginnen und auch nicht mehr über viele Jahre hinaus beständig sein. Vielmehr geht es nun um Symptome, die über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren beobachtbar sind. Der geforderte kürzere Zeitraum der Symptomatik senkt die Diagnoseschwelle und lässt erwarten, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung zukünftig häufiger gestellt wird (Hauser, Herpertz & Habermeyer, 2021). 
Des Weiteren erklären Hauser, Herpertz und Habermayer, dass sich die Behandlung einer Persönlichkeitsstörungen zukünftig an die relevanten Funktionsbeeinträchtigungen richtet. Ziel ist demnach primär die Behandlung von Symptomen, die einen unmittelbaren Leidensdruck sowie Probleme in der sozialen Interaktion begünstigen und nicht mehr die Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen.

Dieser Ansatz ist nicht nur pragmatisch, sondern dürfte den Betroffenen auch leichter vermittelt werden können. 

Lesen Sie mehr über das überarbeitete Konzept der Persönlichkeitsstörungen nach ICD-11

Impulskontrollstörungen

Die Überarbeitung der Impulskontrollstörungen ist im Hinblick auf forensisch-psychiatrische Fragestellungen deshalb relevant, weil alle beschriebenen Verhaltensweisen strafrechtlich bedeutsam sein können (z.B. Brandstiftung, Diebstahl, aggressive Ausbrüchen mit Körperverletzung, Sexualdelikte). 
Neu im Kapitel der Impulskontrollstörungen ist die Wiederaufnahme der Diagnose intermittierende explosible Störung sowie die neue, kontrovers diskutierte Diagnose zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung. Gemäss Bründl und Fuss (Ist abweichendes Sozialverhalten tatsächlich Ausdruck einer psychischen Störung, 2021) wird mit der Aufnahme der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung in die ICD-11 die jahrzehntelange Debatte um das Phänomen nicht abgeschlossen, sondern der Teufelskreis aus fehlenden offiziellen Diagnosekriterien und fehlender empirischer Fundierung fortgesetzt. 
Anders sehen dies Mead und Sharpe (2018). Als Gegenstand aktueller und künftiger Forschungsbestrebungen habe die neue Diagnose das Potenzial, Veränderungen in Therapie und Prävention anzustossen. Inwiefern die Diagnose die soziale, klinische und rechtliche Situation tatsächlich prägen wird, ist noch unklar und wird sich erst im Anschluss an ihre Einführung zeigen.

Lesen Sie mehr über das überarbeitete Konzept der Impulskontrollstörungen nach ICD-11