Personen mit besonderen Bedürfnissen

Niemand ist per se verletzlich. Vielmehr resultiert die Verletzlichkeit (Vulnerabilität) aus bestimmten Umständen, aus Interaktionen mit dem Umfeld oder aus dem Status, der einer Person in einer bestimmten Situation zukommt. Neben persönlichen Faktoren spielt der situative Kontext eine wesentliche Rolle. Beim Vollzug von strafrechtlichen Sanktionen hat der Staat gegenüber allen inhaftierten Personen eine erhöhte Fürsorgepflicht (vgl. Art. 74 und 75 des Schweizerischen Strafgesetzbuches [StGB])

Bestimmte persönliche Faktoren wie etwa das Geschlecht, das Alter, die sexuelle Orientierung, eine Krankheit oder das Herkunftsland können die Verletzlichkeit einer inhaftierten Person im Strafvollzug verstärken. Es lässt sich beobachten, dass bei vielen inhaftierten Personen mehrere dieser Risikofaktoren zusammentreffen und sich kumulieren. Man spricht in diesem Zusammenhang von «Multi-Vulnerabilität».

Ferner sind der Status der inhaftierten Personen im System (ob sich die Person in Untersuchungshaft oder im Straf- und Massnahmenvollzug befindet) sowie die gesellschaftliche Bewertung des Delikts, für das sie verurteilt wurde (z.B. Sexualdelinquenz) weitere Faktoren, welche die Verletzlichkeit inhaftierter Personen verstärken können.

«Any detained person, whatever the reasons that led to their deprivation of liberty, is in a situation of vulnerability. The following are factors that place people in situations of vulnerability: a power imbalance between detainees and those in charge of them, an almost complete dependency upon the institution which has deprived them of their freedom or limits their movements, weakened social ties and stigmatization related to detention.» 

Detention Focus, Datenbank der Association for the Prevention of Torture, APT

Das Zusammenleben in Gefängnissen ist geprägt von einer gegenseitigen institutionellen Abhängigkeit. Die dort stattfindenden Interaktionen sind durch ihre erhebliche Komplexität gekennzeichnet. Asymmetrische sozialen Beziehungen sowie die Tatsache, dass inhaftierte Personen in ihrer Lage potenziell verletzlich sind, können zu einem Machtmissbrauch führen. Einzelne inhaftierte Personen können dabei diskriminiert, isoliert oder stigmatisiert werden; sie können Misshandlungen sowie physischer oder psychischer Gewalt anderer Art ausgesetzt sein.

Das Thema der Vulnerabilität bleibt aktuell. Nicht nur aufgrund strafrechtspolitischer Tendenzen, sondern vor allem, aufgrund des akuten Handlungsbedarfs. Der Anteil bestimmter vulnerabler Personengruppen wie beispielsweise der älteren Menschen oder der psychisch Kranken an der Gesamtpopulation der Inhaftierten Personen nimmt stetig zu. Dabei geht es nicht darum, ihnen Sonderrechte einzuräumen, sondern entsprechend dem Äquivalenzprinzip (siehe Artikel 74 des Strafgesetzbuches) auf spezifische Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen und ihnen professionelle Unterstützung zu bieten. Es gilt, eine erhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit von inhaftierten Personen zu verhindern, sowie deren Grundrechte zu schützen.

Im Folgenden wird auf die Situation von psychisch Kranken, Ausländerinnen und Ausländer, Älteren und Betagten sowie sexuellen Minderheiten im Freiheitsentzug eingegangen. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend, sie setzt sich lediglich mit einigen Personengruppen auseinander, die im Schweizerischen Straf- und Massnahmenvollzug potentiell verletzlich sind und deren Situationen im Fokus der aktuellen Debatte stehen.

 

Die ausführlichen Publikationen zum Thema

  • Ausländische Strafgefangene: von Verletzlichkeit und Unterschieden, Christin Achermann
  • Die ausländerrechtliche Adinistrativhaft im Licht der internationalen Rechtsvorgaben, Alberto Achermann, Jörg Künzli
  • Minorités sexuelles en détention: de l'invisibilité à la stimatisation, Jean-Sebatien Blanc
  • Verletzlichkeiten im Justizvollzug - Anmerkungen einer Gefängnisärztin, Bidisha Chatterjee
  • Pas à nous, mais notre problème? Evolution récente de la détention des étrangers dans les prisons européennes, Natalia Delgrande
  • Menschenrechtliche Vorgaben zu psychisch Kranken im Justizvollzug, Anja Eugster
  • Alt, krank, eingesperrt, Ueli Graf
  • Die Problematik des psychisch Kranken im Justizvollzug, Dorothee Klecha, Sandy Krammer, Volker Dittmann
  • Lebensende im Gefängnis: Vorstellungen, Ängste und Hoffnungen von Gefangenen im geschlossenen Vollzug in der Schweiz, Irene Marti
  • Risque de mauvais traitement en en raison de situation de vulnérabilité dans l'exécution des sanctions pénales, Nicolas Quélaz
  • Vulnérabilité et risques dans un contexte de dépendance institutionelle, Sonja Snacken