Prävention von Radikalisierung

Mit der Zunahme von terroristischen Angriffen und Anschlägen auf europäischem Boden in den letzten Jahren hat sich der Begriff der «Radikalisierung» verbreitet, um den Prozess der Hinwendung zu extremistischer Gewalt zu beschreiben. Gefängnisse werden als Nährböden für Radikalisierung gesehen. Wie soll der Justizvollzug mit dem Phänomen umgehen? Das SKJV hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und den Handlungsbedarf erörtert.

Was heisst Radikalisierung?

Gemäss den Autoren des Nationalen Aktionsplans zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus umschreibt der Begriff «Radikalisierung» den Prozess, durch welchen «[...] eine Person immer extremere politische, soziale oder religiöse Bestrebungen annimmt, allenfalls bis hin zum Einsatz von extremer Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen». Gemäss Nachrichtendienstgesetz beinhalten gewalttätig-extremistische Aktivitäten «(...) Bestrebungen von Organisationen, welche die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen ablehnen und zum Erreichen ihrer Ziele Gewalttaten verüben, fördern oder befürworten.»

Im Justizvollzug ist die Thematik der Radikalisierung deshalb von Relevanz, weil Institutionen des Strafvollzugs im Verdacht stehen, Nährboden für Radikalisierung zu gewalttätigem Verhalten zu sein. Mehrere der Personen, die mit den Attentaten der letzten Jahre in Europa in Verbindung standen, hatten sich während ihrer Zeit im Freiheitsentzug extremistische und gewaltlegitimierende Ansichten angeeignet.

Unsere Arbeiten

In den Empfehlungen der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und –direktoren KKJPD vom 12. April 2018 für den Umgang mit Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus im Justizvollzug wurde das SKJV mit verschiedenen Arbeiten beauftragt. Im Rahmen des bereichsübergreifenden Projekts erarbeitete das SKJV zwischen 2018 und 2020 verschiedene Produkte, um eine Übersicht über die bestehende Praxis in diesem Phänomenbereich zu vermitteln sowie Handlungsanregungen für einen verbesserten Umgang zu formulieren. 

Das SKJV hat folgende Publikationen erarbeitet:

Dynamische Sicherheit im Freiheitsentzug (Handbuch)

Die Risikobeurteilung zur Erkennung von Radikalisierung und gewaltätigem Extremismus im Justizvollzug (Analyse)

Disengagement im Justizvollzug (Analyse)

Aus- und Weiterbildungsangebote im Bereich Radikalisierung und gewalttätiger Extremismus im Justizvollzug (Analyse)

Analyse Risikobeurteilung

Das SKJV erstellte einen Bericht über die bestehenden Screening- und Risikoabklärungsinstrumente für Fälle von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus. Dieser Bericht basiert auf Gutachten von schweizerischen und europäischen Expert*innen sowie einer zweisprachigen Arbeitsgruppe bestehend aus Praktiker*innen aus dem schweizerischen Justizvollzug. Das Fazit des SKJV lautet, dass die vorhandenen Screeninginstrumente für eine Ersteinschätzung durchaus hilfreich sein können. Zu beachten ist, dass die Resultate nicht als Risikoeinschätzungen fehlinterpretiert werden dürfen. Bei Risikoabklärungsinstrumenten schätzt das SKJV die Validität aller bestehenden Instrumente als unzureichend ein.

Das SKJV empfiehlt anstelle der Instrumenteanwendung, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Justizvollzug und polizeilichen sowie nachrichtendienstlichen Akteuren auf kantonaler Ebene zu stärken.

Analyse Disengagement

Disengagement ist ein sozialer und psychologischer Prozess. Durch ihn wird die Bereitschaft einer Person zum gewalttätigen Extremismus und ihre Mitwirkung daran reduziert. Es soll nicht mehr die Gefahr bestehen, dass eine Person Gewalthandlungen begeht oder sich daran beteiligt.

Das SKJV hat anhand von Interviews mit Experten aus der Praxis untersucht, welche Disengagement-Angebote in der Schweiz existieren und festgestellt, dass aufgrund der geringen Nachfrage praktisch keine bestehen. In Form eines Disengagement-Katalogs trug das SKJV bewährte Programme aus dem Ausland zusammen und benannte bestehende Praktiken der Bewährungshilfe, die für Disengagement eingesetzt werden könnten.

Das SKJV sieht die integrierte Fallführung, strukturierte kulturelle und freizeitliche Aktivitäten, Gewaltberatungsprogramme sowie ideologische Interventionen als zentrale Aspekte für ein erfolgreiches Disengagement.

Analyse Aus- und Weiterbildung

In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Gesellschaft und Islam der Universität Fribourg erarbeitete das SKJV eine Übersicht über die aktuellen internen und externen Weiterbildungsangebote für Mitarbeitende des Justizvollzugs und für Religionsvertreter im Bereich der Prävention von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus. Das SKJV stellt fest, dass schweizweit bereits diverse Angebote bestehen. Das SKJV selbst bietet seit 2018 die Weiterbildung «Radikalisierung/Extremismus: erkennen, verstehen, handeln» an.

Das bestehende Angebot kann aufgrund heterogener kantonaler Regelungen nicht von allen Zielgruppen wahrgenommen werden. Unter anderem bedarf es hier einer Diskussion über die institutionelle Verankerung der Imame, die mehrheitlich mit kleinen Pensen oder gar ehrenamtlich im Justizvollzug tätig sind und daher über keine justizvollzugsspezifische Ausbildung verfügen.