Interkulturalität im Justizvollzug

Tägliche Herausforderung und wesentliche professionelle Haltung: Aufbau von Vertrauensbeziehungen in einem vielschichtigen Umfeld.

Im schweizerischen Justizvollzug ist kulturelle Vielfalt keine Ausnahme, sondern die Regel. Berufsleute aus diesem Bereich bewegen sich täglich in einem Umfeld, das von einer Vielzahl von Sprachen, kulturellen Hintergründen, Migrationsverläufen und Weltanschauungen geprägt ist – sowohl bei den inhaftierten Personen als auch in den Teams selbst. In diesem Zusammenhang sind interkulturelle Kompetenzen, vor allem aber auch die damit einhergehende professionelle Haltung, wesentlich, um den gesetzlichen Auftrag unter Wahrung von Würde, Sicherheit und Fairness umzusetzen. Interkulturalität ist weit mehr als ein Modethema, sie ist im Alltag von Mitarbeitenden und Führungskräften allgegenwärtig.

Definition

Interkulturalität geht über blosse Koexistenz (Multikulturalität) hinaus und lädt Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu bewusster, respektvoller und gegenseitiger Interaktion ein. Um das gegenseitige Verständnis zu fördern, sind eine offene Haltung, das Hinterfragen der eigenen Bezugspunkte und Dialogbereitschaft Voraussetzung. Für die berufliche Praxis bedeutet dies, Vielfalt als Ressource zu betrachten und nicht als Problem, das es zu bewältigen gilt.

Die Herausforderungen der Interkulturalität im Rahmen des Justizvollzugs

Im Kontext des schweizerischen Justizvollzugs ist kulturelle Vielfalt sowohl bei inhaftierten Personen als auch beim Personal eine alltägliche Gegebenheit. Es ist jedoch eine Herausforderung, diese Vielfalt im beruflichen Kontext zu nutzen. Sprachbarrieren, interkulturelle Missverständnisse und Identitätszuweisungen erschweren die Interaktionen. Manchmal werden gewisse Verhaltensweisen falsch interpretiert, weil sie nicht verstanden werden. Anlässlich des Forums Justizvollzug 2024 des SKJV beschrieben Fachpersonen mehrere konkrete Situationen, die die konkreten Herausforderungen der Interkulturalität im Alltag illustrieren. So weigerte sich etwa eine inhaftierte Roma-Mutter, ihr Baby mit nach draussen zu nehmen – nicht, weil sie es vernachlässigte, sondern weil sie, in ihrem Glauben, den bösen Blick fürchtete. In einem weiteren Beispiel weigerten sich muslimische Inhaftierte zunächst, Kisten für den Transport von Weinflaschen zusammenzubauen, bis ein Imam die Frage klärte. Zu einem Missverständnis kam es auch im Fall des Fachmanns Justizvollzug, der sich mit einer inhaftierten Person in einer Fremdsprache unterhielt, worauf ihn seine Kollegen verdächtigten, diese Person zu bevorteilen. Ein offenes Gespräch konnte das Vertrauen wieder herstellen. Diese Situationen zeigen die Notwendigkeit eines überlegten Ansatzes, mit dem kulturelle Eigenheiten berücksichtigt werden können, ohne die institutionellen Anforderungen aufzugeben. Diese Arbeit setzt ein kritisches kulturelles Bewusstsein voraus – vom Europarat als die Fähigkeit definiert, die eigenen kulturellen Bezugspunkte sowie die anderer reflektiert zu bewerten.

Im Kontext des schweizerischen Justizvollzugs ist kulturelle Vielfalt sowohl bei inhaftierten Personen als auch beim Personal eine alltägliche Gegebenheit. Es ist jedoch eine Herausforderung, diese Vielfalt im beruflichen Kontext zu nutzen.

Viele Fachpersonen im Justizvollzug haben selbst Migrationserfahrungen oder haben im Ausland gelebt. Andere haben sich bei der Betreuung von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, Wissen angeeignet. Solche Lebensläufe sensibilisieren für die Frage, wer der Andere ist und tragen zu einem gestärkten Vertrauensverhältnis mit inhaftierten Personen und Personen auf Bewährung bei, insbesondere wenn eine Fachperson die gleiche Sprache spricht oder ihre Referenzen versteht. Eine solche Beziehung erfordert eine aktive Position der Fachperson. Von Interkulturalität zu sprechen bedeutet, einen oberflächlichen Diversitätsansatz abzulehnen. Es geht weder darum, Unterschiede zu «tolerieren», noch darum, theoretisches Wissen über «Kulturen» zu sammeln, sondern darum, in einem diversen Umfeld Beziehungsfähigkeit zu entwickeln. Das Konzept der Interkulturalität fordert dazu auf, von Vorurteilen, impliziten Stereotypen und Distanzierungsreflexen abzuweichen und stattdessen zuzuhören, sich offen zu zeigen und sich selbst zu reflektieren. Interkulturalität erfordert, dass Machtverhältnisse und mögliche, in der Institution verankerte systemische Diskriminierungen erkannt und mit einer proaktiven Haltung verhindert werden. Diese Haltung wird kollektiv aufgebaut, durch Weiterbildung, Teamarbeit, Praxisanalyse und berufsübergreifenden Austausch.

Konkrete Ansätze für den Übergang von Multikulturalität zu Interkulturalität

Eine aktive interkulturelle Haltung beruht auf einer Reihe von persönlichen Kompetenzen, die sowohl zwischenmenschliche (savoir-être) als auch praktische (savoir-faire) Fähigkeiten umfassen. Diese Fähigkeiten sind nicht angeboren: Sie können durch Bildung, Erfahrung und Reflexion über die eigene Praxis entwickelt und gestärkt werden. Laut Europarat sind «interkulturelle Kompetenzen die spezifischen Fähigkeiten, die erforderlich sind, um eine positive Beziehung zu Menschen mit unterschiedlichen ethnischen, kulturellen, religiösen und sprachlichen Hintergründen einzugehen». Ausserdem ermöglichen sie es, «anschliessend Schritte einzuleiten, die ein besseres Verständnis der verschiedenen Weltanschauungen und kulturellen Gepflogenheiten fördern können». Mit Personen aus anderen Kulturen in einen interkulturellen Dialog zu treten bedeutet, andere Sichtweisen einzunehmen und offen dafür zu sein, die eigenen Vorstellungen aufgrund neuer Wahrnehmungen zu hinterfragen. Ausserdem ist in der Interaktion mit anderen Menschen Flexibilität vonnöten, um eigene Verhaltensweisen anzupassen und sich auf neue Erkenntnisse und Situationen einzustellen.

Eine immer noch unterschätzte berufliche Ressource

Die Berufsleute im Justizvollzug sind selbst ein Spiegel der schweizerischen Vielfalt. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund, verfügen über eine plurlinguale Identität und machen versteckte und sichtbare Erfahrungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Diese Vielfalt stellt eine berufliche Ressource dar, sofern sie erkannt, wertgeschätzt und als Kompetenz integriert wird – und nicht als Herausforderung angesehen wird, die es zu meistern gilt. Interkulturelle Teams, die eine gemeinsame Kultur entwickeln, die auf Respekt, Vertrauen und Transparenz beruht, profitieren von einem besseren Arbeitsklima, zeigen sich resilienter gegenüber Spannungen und können komplexe Situationen besser bewältigen.

Im umgekehrten Fall kann eine fehlende Anerkennung der Identitäten oder ein mangelhafter Umgang mit der Vielfalt zu Missverständnissen, Kommunikationsabbrüchen oder Formen von interner Ausgrenzung führen.

Interkulturalität und Wege zur Reintegration: aktivierbare Hebel

Die auf dieser Seite präsentierten Videoausschnitte sowie die Diskussionen am Forum Justizvollzug 2024 zeigen mehrere Initiativen und konkrete Wege auf, wie die Interkulturalität innerhalb der Institutionen des Justizvollzugs gestärkt werden kann, insbesondere im Hinblick auf die Wiedereingliederung von strafrechtlich verurteilten Personen in die Gesellschaft:

  • Sensibilisierung der Fachpersonen für die spezifischen Herausforderungen, denen inhaftierte Personen begegnen (Sprache, Kultur, administratives Vorgehen nach der Entlassung)
  • Einsatz von interkulturellen Dolmetschenden zur Verbesserung des Verständnisses und Sicherstellung, dass die Botschaft gut angekommen ist und nicht nur der Wortlaut übersetzt wurde.
  • Angebot von Kursen über die Schweiz, ihre Geschichte und Staatskunde, um eine langfristig gelungene Integration zu unterstützen.
  • Stärkung der interkulturellen Bildung bei sämtlichen inhaftierten Personen.

Eine Frage der Sichtweise

Mehrere Expert:innen betonen: Es ist nicht alles eine Frage der Kultur. Verhaltensweisen oder Schwierigkeiten auf kulturelle Hintergründe zu reduzieren, kann zu missbräuchlichen Verallgemeinerungen und sogar Formen der Stigmatisierung führen. Bestimmte Faktoren sind auf die individuellen Lebensläufe, Probleme der psychischen Gesundheit, die Haftbedingungen oder soziale Umstände wie Armut oder Einsamkeit zurückzuführen. Es wäre aber umgekehrt ebenso einschränkend, alle kulturellen Bezüge und Weltanschauungen der betreuten Personen zu vernachlässigen. Deshalb ist es wesentlich, eine nuancierte Sichtweise zu entwickeln, die unterscheidet, ohne gegenüberzustellen, und die gleichzeitig individuelle Merkmale und kulturellen Kontext berücksichtigt. Dies setzt voraus, dass man sich mit Analyse- und Klärungstools ausstattet, aber auch, dass man den berufsübergreifenden Austausch, die Praxisanalyse und die Supervision fördert. Eine solche Haltung ermöglicht es, Missverständnisse zu entschärfen, Spannungen vorzubeugen und dauerhafte, auf Vertrauen basierende Beziehungen aufzubauen – sowohl unter Kolleg:innen als auch mit den inhaftierten Personen.

Verankerung der Interkulturalität in der institutionellen Praxis und Politik

Um die Interkulturalität im Alltag des Justizvollzugs umzusetzen, müssen mehrere Hebel in Bewegung gesetzt werden:

  • Rekrutierung und Anerkennung vielfältiger Profile, auch in Führungspositionen
  • Weiterbildungen zu interkulturellen Kompetenzen, Bias-Analyse und inklusiver Kommunikation
  • Räume für die Praxisanalyse, um ethische Dilemmas, Spannungssituationen oder divergierende Wahrnehmungen zu thematisieren
  • Explizite interne Politik zur Verhinderung von Diskriminierung, zu kulturellen und religiösen Rechten und zum Umgang mit Konflikten

Multikulturelle Teams als Hebel für mehr Effizienz

In einigen kantonalen Institutionen wird der Vielfalt des Personals besondere Aufmerksamkeit geschenkt, mit einem bedeutenden Anteil von Berufsleuten mit Migrationshintergrund oder mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Diese Vielfalt wird im Umgang mit interkulturellen Situationen als Vorteil wahrgenommen, insbesondere dank des sprachlichen Reichtums, der Beziehungsoffenheit und der Anpassungsfähigkeit, die sie bietet. Einige Teams nutzen sowohl externe Dolmetschende, digitale Übersetzungstools als auch interne Sprachkenntnisse – auch die von inhaftierten Personen –, um die Kommunikation flüssiger zu gestalten. Darüber hinaus ist das Einfühlungsvermögen, die Geduld und das Verständnis, das multikulturelle und multireligiöse Mitarbeitende an den Tag legen, oft entscheidend für die Beziehung zu den inhaftierten Personen, insbesondere zu jenen mit einer ungewissen Zukunft.

VIDEO MEIN BEISPIEL FÜR EINE ERFOLGSGESCHICHTE

Was Sie wissen müssen

Interkulturalität ist im Kontext des Justizvollzugs eine wesentliche transversale Kompetenz, um ein respektvolles Klima in der Institution, einen gerechten Strafvollzug und eine kohärente Vorbereitung auf die Wiedereingliederung zu gewährleisten. Sie setzt weit mehr voraus als die Kenntnis bestimmter Bräuche. Sie beruht auf einer professionellen Haltung, bei der aktives Zuhören, Selbstreflexion, Umgang mit impliziter Voreingenommenheit und Anpassungsfähigkeit im Zentrum stehen.

In einem interkulturellen Umfeld zu arbeiten, erfordert die Fähigkeit, mit Personen zu kommunizieren, die andere Referenzen haben als die eigenen, Verhaltensweisen zu interpretieren, ohne sich von Vorurteilen leiten zu lassen und in multikulturellen Teams zusammenzuarbeiten. Man muss dafür auch einen klaren und kohärenten Rahmen setzen können und die Unterschiede respektieren, ohne dabei auf Entschlossenheit zu verzichten.

In diesem Bereich müssen die Fachkräfte spezifisch geschult werden, auf kulturell kompetente Dolmetschende zurückgreifen und Räume für die Praxisanalyse nutzen können. Die Vielfalt muss als Ressource institutionell anerkannt werden. Interkulturalität kann nicht improvisiert werden. Sie wird gelernt, geübt und in einer kollektiven Arbeitsdynamik verankert.

Expert:innen für Interkulturalität in der Schweiz

Das SKJV bietet in Zusammenarbeit mit dem Haus der Religionen Schulungen an. 

 

SIETAR Schweiz, die Gesellschaft für interkulturelle Bildung, Ausbildung und Forschung bietet Schulungen im Bereich der Interkulturalität an.
 

In der französischsprachigen Schweiz bietet die Vereinigung Appartenances Schulungen in Institutionen oder im Fernstudium an. 

Diskriminierungsprävention

Das Thema der Interkulturalität ist eng mit dem Thema Diskriminierung verknüpft. Zu diesem spezifischen Aspekt sind mehrere Ressourcen, Studien und Schulungen verfügbar, insbesondere über die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) sowie über die Plattform www.network-racism.ch (ein gemeinsames Projekt der EKR und humanrights.ch). 

Handbuch «Mesuring Intercultural Dialog – A conceptual and technical framework» (Messung des interkulturellen Dialogs – konzeptueller und technischer Rahmen)

Das auf französisch und englisch verfügbare Handbuch ist ein veritabler Werkzeugkasten, der von der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und dem Institute for Economics & Peace entwickelt wurde. Es bietet den rigorosen Ansatz, den interkulturellen Dialog als institutionelle Kompetenz und nicht als Beziehungszusatz zu denken. In diesem Rahmen wird betont, dass der Dialog, um effektiv zu sein, messbar, durch konkrete Indikatoren unterstützt und in die interne Politik integriert sein muss. Für die Fachkräfte in der Schweiz bedeutet dies, Instrumente zur Bewertung der Qualität der interkulturellen Interaktionen zu entwickeln, die Fähigkeiten zum aktiven Zuhören und zur Regulierung zu stärken und die Interkulturalität als Hebel für Stabilität, Teamzusammenhalt und Wiedereingliederung zu nutzen. Ein solcher Ansatz kann nicht nur die Beziehungen zu den inhaftierten Personen, sondern auch das Arbeitsklima zwischen Kolleg:innen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen verbessern.