Steigende Inhaftierungsraten und überlastete Einrichtungen weltweit – Ursachen, Folgen und Strategien

Praxisentwicklung

Christoph Urwyler, Leiter Monitoring Justivollzug MJV, Stellvertretender Leiter Analyse und Praxisentwicklung des SKJV
Marc Wittwer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Monitoring Justizvollzug MJV des SKJV

Noch nie befanden sich weltweit so viele Personen im Freiheitsentzug wie im Jahr 2024 (11.5 Millionen). Und noch nie waren so viele Länder mit überfüllten Einrichtungen konfrontiert. Die Gründe für diese Entwicklungen sind vielseitig. Der jüngste Bericht Global Prison Trends 2024 der NGO Penal Reform International (PRI) liefert differenzierte Einblicke in die kritische Haftsituation, setzt sich mit deren Ursachen und sozialen Folgen auseinander und reflektiert Alternativen zum Freiheitsentzug. 

Weltweit mehr inhaftierte Personen

Seit etwa dem Jahr 2000 ist die Gesamtzahl inhaftierter Personen weltweit um 27 % gestiegen, was etwas weniger ist als der geschätzte Anstieg der Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum (31 %). Rund ein Drittel dieser Personen befindet sich in Untersuchungshaft. Gemäss PRI steht dies auch im Widerspruch zur UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Ziel Nr. 16), die eine Reduktion von Gewalt und Kriminalität, die Förderung von Gerechtigkeit und eine inklusive Partizipation aller Gruppen garantieren soll. Alle UN-Mitgliedsländer – darunter auch die Schweiz – haben sich zur Agenda verpflichtet.  

Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Kontinenten und Regionen: Die Zahl Inhaftierter in Ozeanien ist um 84 % gestiegen, in Amerika um 39 %, in Asien um 43 % und in Afrika um 53 %. In Europa ist sie dagegen um 26 % gesunken. Dies spiegelt den starken Rückgang der Gefängnisinsassen in Russland (59 %) und auch in Mittel- und Osteuropa (48 %) wider. Ohne Russland ist die Zahl der Gefängnisinsassen in Europa um 12 % gestiegen. Besonders starke Anstiege wurden in Südamerika (224 %) und Westasien (141 %) verzeichnet.  

Source : Global Prison Trends 2024, Penal Reform International

Steigende Überbelegung, schlechtere Haftbedingungen

Diese weltweiten Zunahmen führen immer mehr zu überlasteten Einrichtungen. Nach aktuellen Zahlen waren davon im Jahr 2024 rund 155 Länder betroffen. In 59 Ländern beläuft sich die nationale Belegungsrate auf 150 % und in 8 Ländern sogar auf rund 300 %. Auch elf europäische Länder melden eine Überbelegung, darunter z.B. Slowenien (133 %), Frankreich (123 %) und Kroatien (113 %). Eine geringe Anzahl von Ländern hat einen Rückgang der Gefängnispopulation gemeldet, darunter die Niederlande und Estland. Weltweit agieren lediglich 30 % der nationalen Systeme innerhalb der vorhandenen Kapazitäten.  

Die Lebensbedingungen der inhaftierten Personen haben aufgrund dieser Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren weltweit markant verschlechtert: Beengte und unhygienische Zustände, steigende Gewalt und Konflikte, mangelnde Möglichkeiten zur Arbeit und ein belastetes Klima sind nur einige Beispiele dafür. Aber auch die Mitarbeitenden leiden: unter mangelnder Zeit und mangelnder Ressourcen und Stress. Überlastete Einrichtungen schaden also allen.

Source : Global Prison Trends 2024, Penal Reform International

  

Gründe für die Überbelastungen

Bestrafung von Armut

Armutsbedingte Aktivitäten wie etwa betteln, hausieren oder herumlungern stehen in vielen Ländern unter harter Strafe und sie werden systematisch geahndet. Dieser Tatbestand der «vagrancy» (Landstreicherei) wurde häufig zu Zeiten der britischen Kolonien eingeführt, um die städtischen Bevölkerungen im Zaum zu halten. Landstreicherei-Gesetze sind auch heute noch, vor allem im globalen Süden, verbreitet. In Sambia etwa können Menschen bestraft werden, wenn sie keine offensichtlichen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder reguläre Beschäftigung haben.

Harter Umgang mit Drogendelikten

Viele Länder verlassen sich bei Drogendelikten stark auf Untersuchungshaft und lange Haftstrafen, selbst bei Personen, die wegen einer geringfügigen Beteiligung am Drogenhandel angeklagt oder verurteilt wurden. Diese Vorgehensweise ist nach wie vor eine der Hauptursachen für die Überbelegung der Gefängnisse, insbesondere in Ländern, in denen die Regierungen eine harte Linie verfolgen. Nach UN-Angaben wurden im Jahr 2020 weltweit schätzungsweise 3,1 Millionen Menschen wegen Drogendelikten verhaftet - mehr als die Hälfte (61 %) wegen Drogenbesitzes, wobei zwischen “Konsum” und “Handel” oftmals nicht unterschieden wird. Drogendelikte sind nach wie vor ein Grund für den Anstieg der weiblichen Gefängnisinsassen, da mehr als eine von drei inhaftierten Frauen wegen eines Drogendelikts inhaftiert ist.  

Strategien zur Reduktion der Überlegung

Ausbau der Kapazitäten

Die Länder gehen auf unterschiedliche Weise gegen die Überbelegung vor. Zu den gängigen Ansätzen gehören der Bau neuer Gefängnisse und der Ausbau bestehender Einrichtungen. Die slowenischen Behörden berichten, dass sie begonnen haben, Personen in weniger überfüllte Einrichtungen zu verlegen und bedingte Entlassungen vorzunehmen. Die schwedischen Justizbehörden planen – aufgrund der von der Regierung beschlossenen härteren Gangart gegenüber Bandenkriminalität und einer Verschärfung der bedingten Entlassung – die Konstruktion von grösseren Anstalten und erwägen sogar die Anmietung von Haftplätzen im Ausland, da man von einer Verdreifachung der benötigten Kapazitäten in den nächsten zehn Jahren ausgeht. Die kroatischen Behörden haben als Reservekapazität an einigen Standorten modulare Container aufgebaut, in England und Wales werden neuerdings auch Polizeizellen genutzt, um die akute Überbelegungskrise zu reduzieren.  

Plea Bargaining

Ein weiteres, in Europa noch weniger bekanntes Instrument, das weltweit immer häufiger eingesetzt wird, ist das aus den USA stammende «Plea Bargaining», eine Vergleichsvereinbarung zwischen Angeklagten und Staatsanwaltschaft, um ein abgekürztes Verfahren respektive auch mildere Strafen zu ermöglichen, sofern sich Angeklagte schuldig bekennen. Während solche Programme von immer mehr Ländern aufgegriffen werden, werden sie durch Experten unter anderem wegen mangelnder Transparenz, ungleicher Verhandlungsposition und Anreizen für falsche Schuldbekenntnisse kritisiert.  

Förderung von Alternativen

Statt die Kapazitäten auszubauen, werden in vielen Ländern zunehmend auch Alternativen zum Freiheitsentzug als wirksames Mittel gegen die Überbelegung von Einrichtungen diskutiert. Deren Ausweitung schreitet, so der Bericht von PRI, jedoch in den verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlichem Masse voran. Vielerorts sind sie unterentwickelt und werden nicht ausreichend genutzt, da sie von den Regierungen nicht priorisiert oder angemessen finanziert werden. Als Alternative für eine Freiheitsstrafe kommen dabei hauptsächlich Massnahmen wie Bewährungshilfe, Gemeinnützige Arbeit sowie elektronische Überwachung in Frage. Laut Marktanalysen ist insbesondere der von privaten Anbietern dominierte Markt des «Electronic Monitoring» weltweit stark am Wachsen, insbesondere in Asien. In Südkorea zum Beispiel können Kamera-Systeme in den Stadtgebieten durch das EM-System für eine visuelle Überwachung in Echtzeit genutzt werden. In England hat sich die Zahl der Personen, die mit einem Alkoholüberwachungsgerät ausgestattet sind, innerhalb eines Jahres verdoppelt. In den USA lässt sich indes beobachten, dass die EM-Zahlen zwar signifikant zugenommen, die Zahl der Gefängnisinsassen jedoch nicht im gleichen Masse abgenommen hat. Dies spricht dafür, dass die Einführung dieser Technologie eher zu einer Ausweitung der Strafmassnahmen auf zuvor nicht als kriminell oder problematisch definierte Gruppen geführt hat (sogenannter «net-widening-effect»).  

Weitblick und Reformen statt Überbelegung

Der Bericht kommt zum Schluss: Eine nachhaltige Lösung der weltweiten Überbelegungsproblematik erfordert mehr als den reinen Ausbau von Gefängniskapazitäten. Notwendig sind tiefgreifendere Reformen, die sowohl alternative Sanktionen ausbauen als auch die soziale Ungleichheit als eine der Hauptursachen für hohe Inhaftierungsraten adressieren. Besonders die Kriminalisierung von Armut und der harte Umgang mit Drogendelikten tragen vielerorts erheblich zur Überlastung der Haftanstalten bei. Auch innovative Ansätze wie eine effizientere Strafvollstreckung oder gezielte Entkriminalisierungsmassnahmen müssen stärker in den Fokus rücken. Letztlich kann ein menschenwürdiger und effizienter Justizvollzug nur durch eine ausgewogene Strategie aus Kapazitätsanpassungen, präventiven Massnahmen und einer Reform des Strafrechts sichergestellt werden.

To be continued 

Wie sich die Situation im schweizerischen Justizvollzug gegenwärtig gestaltet, welche neuen Herausforderungen sich hierzulande stellen und welche Massnahmen für die Zukunft des Justizvollzugs anstehen, darüber wird im Verlauf des Jahres an dieser Stelle berichtet.