Desistance im Dialog
Seit den 1980er Jahren gehören Arbeiten, die sich mit Ausstiegsprozessen aus der Kriminalität – gemeinhin als Desistance bezeichnet – befassen, zu den wichtigsten kriminologischen Forschungsfeldern in den westlichen Ländern.
Was ist Desistance?
Desistance meint den Prozess des Abstandnehmens von kriminellen Verhaltensweisen. Es geht dabei um den Prozess, der dies ermöglicht und gleichzeitig um das Aufrechterhalten eines rückfall- und straffreien Lebens. Im Vordergrund stehen die persönliche Entwicklung des Individuums und der soziale Kontext, welcher die Wiedereingliederung und ein straffreies Leben fördern. Ein Ausstieg aus der Kriminalität erfordert eine allgemeine Stabilisierung der sozialen Situation der betroffenen Person, damit straffälliges Verhalten sukzessive an Bedeutung und Substanz verliert. Desistance bedeutet dabei mehr als das Ausbleiben von Rückfällen. Es handelt sich um einen Prozess und nicht um einen Zustand oder ein klares Ende der Straffälligkeit. Diese individuellen und subjektiven Prozesse verlaufen nicht linear, manchmal geht es vorwärts, manchmal kommt es zu Rückschlägen und es gibt Höhen und Tiefen. So schliesst selbst ein Rückfall einen Veränderungsprozess im Sinne der Desistance nicht zwangsläufig aus.
Es gibt drei Aspekte, die den Prozess der Desistance kennzeichnen: die primäre oder verhaltensbezogene Desistance bezeichnet eine mehr oder weniger lange Zeit ohne Straftaten; die sekundäre oder identitäre Desistance beschreibt die Entwicklung eines prosozialen Selbstbildes; die tertiäre oder gemeinschaftliche Desistance beschreibt die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gesellschaft, die bereit ist, Individuen, die einmal gegen strafrechtliche Normen verstossen haben, (wieder) zu akzeptieren.
Wir müssen auf intelligentere Weise versuchen, das Klima zu ändern, um Desistance wirklich möglich zu machen.
Was sind die treibenden Kräfte und Hindernisse der Desistance?
Der Prozess der Desistance ist ein komplexer und dynamischer Weg, der manchmal begünstigt und manchmal gebremst wird. Obwohl jeder Weg individuell ist, hat die Forschung die wichtigsten Faktoren ermittelt, die den Ausstieg aus der Kriminalität unterstützen oder behindern.
Wenn ich mit Personen in ähnlichen Situation wie mir zusammen war, vergass ich den Alltag.
Von der Theorie zur Praxis
Desistance-Forschende legen besonderen Wert auf die Umsetzung ihrer theoretischen Konzepte in die Praxis. Aus den Erkenntnissen über Desistance-Prozesse lässt sich Folgendes ableiten:
- Desistance ist ein langer und komplexer Prozess.
- Jeder Ausstiegsweg ist individuell und charakteristisch für jede Person und den sozialen Kontext, in dem sie sich bewegt.
- Es ist für den Desistance-Prozess unerlässlich, dass sich eine Reihe von Akteuren sowohl innerhalb des Justizsystems als auch in der Gesellschaft engagieren und die Personen auf ihrem Ausstiegsweg unterstützen.
- Erfahrungen von Stigmatisierung und diskriminierenden Mechanismen behindern die Bildung eines positiven Selbstbildes, welches Desistance und die soziale Integration fördert.
- Die angestrebte Veränderung übersteigt oftmals den Einflussbereich des Justizsystems, da Desistance nicht nur bedeutet, keine Straftaten mehr zu begehen, sondern im weiteren Sinne eine allgemeine Stabilisierung der persönlichen Lebensumstände beinhaltet.
- Der Desistance-Ansatz betont, dass die Unterstützung von Ausstiegsprozessen aus der Kriminalität untrennbar verbunden ist mit Massnahmen zur Bekämpfung der strukturellen und systemischen Ursachen von Kriminalität (Wirtschaft, Soziales, Gesundheit, Bildung usw.) und der Förderung der sozialen Integration.
Welche Bedeutung hat Desistance in der Schweiz?
In der Schweiz wird der Desistance-Ansatz im Rahmen des Projekts Objectif Désistance der Lateinischen Kommission für Bewährungshilfe umgesetzt. Das vom Bundesamt für Justiz finanzierte Projekt, das als Modellversuch von Februar 2019 bis Januar 2023 umgesetzt wurde, hat zum Ziel, die Bewährungspraktiken zwischen den Kantonen der Westschweiz und des Tessins zu formalisieren und zu vereinheitlichen.
Ich könnte nicht zurück zu einer Praxis in der Bewährungshilfe, wie ich sie vor vier Jahren praktiziert habe.
Mailin Wong-Juillerat, Gruppenchefin rechtspsychologische Evaluation und Begleitung Kanton Wallis, erklärt uns den Ursprung des Projekts Objectif Désistance, den Mehrwert des Desistance-Ansatzes und wie sich ihre Arbeit seit dem Projekt "Objectif Désistance" verändert hat.
Ist Desistance nur ein Thema der Bewährungshilfe?
Der Ansatz der Desistance wird häufig mit der Bewährungshilfe verbunden, da das ambulante Setting konkretere Möglichkeiten bietet, den Verlauf und die zukünftigen Projekte der betreuten Person zu unterstützen.
Im Projekt "Objectif Désistance" geht die Wahl dieses Ansatzes darauf zurück, die Praktiken der Bewährungsdienste in den Westschweizer Kantonen und im Tessin zu vereinheitlichen, die Entwicklung ihrer Praktiken zu hinterfragen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen risikoorientierten und ressourcenorientierten Ansätzen anzustreben, wobei der Ansatz der Desistance zu Letzteren gehört.
Während sich die Theorien im sozialrechtlichen Bereich ständig weiterentwickeln, wird die Integration des Desistance-Ansatzes in allen Phasen des Sanktionenvollzugs als wichtig eingestuft, insbesondere während des Freiheitsentzugs.
Unter Bezugnahme auf die oben genannten Faktoren der Desistance auf individueller, relationaler und gesellschaftlicher Ebene lassen sich unterschiedliche Wege zur Förderung von Desistance-Prozessen ableiten. Darüber hinaus wird deutlich, dass die zehn Leitprinzipien, die im Rahmen des Projekts "Objectif Désistance" entwickelt wurden, potenziell bei jeder straffällig gewordenen Person und in allen Phasen des Sanktionenvollzugs angewendet werden können, so dass, wie in der Literatur häufig wiederholt- der Desistance-Ansatz von allen institutionellen Akteuren der Strafvollzugskette genutzt werden kann.
Das vorliegende Themendossier stützt sich auf zwei Expertisen, die im Auftrag des SKJV von Aurélie Stoll, Postdoctoral Researcher des Schweizerischen Nationalfonds, John Jay College of Criminal Justice, New York, und Franz Zahradnik, Postdoctoral Researcher am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich (UZH), verfasst wurden.
Stoll, A. (2022). Desistance from crime : Réflexions théoriques et pratiques.
Zahradnik, F. (2022). Desistance from crime und dessen praktische Umsetzung im In- und Ausland.