Die Schlussfolgerungen des Berichts der Antifolterkommission des Europarats für die Schweiz

Praxisentwicklung

Jean-Sébastien Blanc, wissenschaftlicher Mitarbeiter am SKJV

Das europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT, kurz: Antifolterkommission) hat im Juni den Bericht über seinen Besuch in der Schweiz veröffentlicht, welcher vom 22. März bis zum 1. April 2021 erfolgte. Was sind die bedeutendsten Schlussfolgerungen dieses Berichts für den Justizvollzug? Jean-Sébastien Blanc (JSB), wissenschaftlicher Mitarbeiter am SKJV, hat die Antworten.

Zunächst einmal: Was ist die Aufgabe des CPT?
JSB: Das CPT ist eine unabhängige Fachinstitution des Europarats, dem auch die Schweiz angehört. Die Hauptaufgabe des CPT besteht darin, zu prüfen, wie Menschen im Freiheitsentzug behandelt werden. Die CPT-Mitglieder besuchen u. a. Polizeistationen, Strafvollzugsanstalten, Jugendstrafanstalten, Ausschaffungsgefängnisse, psychiatrische Kliniken oder soziale Pflegeheime. Das CPT setzt sich aus unabhängigen Expertinnen und Experten zusammen, darunter Juristinnen und Juristen, Ärztinnen und Ärzte sowie Expertinnen und Experten für Strafvollzugs- und Polizeiangelegenheiten. 

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Was sind die wichtigsten Beobachtungen des CPT in Bezug auf die Schweiz?
JSB: Eine der Hauptsorgen des CPT ist die Überbelegung, die in mehreren Einrichtungen in der Westschweiz beobachtet wurde. Drüber hinaus macht sich das CPT Sorgen über die Situation in den Polizeistationen des Kantons Waadt. Dort werden Personen manchmal für lange Zeit in Zellen inhaftiert, die nicht für diesen Zweck vorgesehen sind. Ein weiterer Punkt, der mir sehr interessant erscheint ist die Richtung, welche das CPT in Bezug auf die Überbelegung von Gefängnissen längerfristig einschlagen möchte. Es fordert die Behörden auf, eine umfassende Strategie zur Reduzierung der Gefängnispopulation zu implementieren und erinnert daran, dass «die Erweiterung der Kapazitäten der Gefängnisse keine dauerhafte Lösung für das Problem der Überbelegung darstellt». Das CPT empfiehlt den Behörden ausserdem sicherzustellen, dass die disziplinarische Einzelhaft nicht länger als 14 Tage dauert, wie das der Europarat vorsieht.

Es ist bekannt, dass die Untersuchungshaft oft als Auslöser für viele Probleme angeprangert wird. Was sagt das CPT zu diesem Thema? 
JSB: Eine ihrer Hauptbeobachtungen bezieht sich auf das Angebot an Aktivitäten der Personen in Untersuchungshaft, welche als zu eingeschränkt angesehen wird. Das CPT fordert daher die kantonalen Behörden auf, das Beschäftigungsangebot ausserhalb der Zellen zu verbessern, damit künftig alle Untersuchungshäftlinge mindestens acht Stunden pro Tag in Gemeinschaftsbereichen verbringen können. Als Beispiel hebt das CPT die Situation im Gefängnis Limmattal hervor. Dort können die Untersuchungshäftlinge Aktivitäten in einem als angemessen erachteten Rahmen nachgehen und die Zellen sind ca. sechs Stunden pro Tag geöffnet. Das CPT weist auch auf den laufenden Reformprozess im Kanton Zürich hin, mit dem ein offeneres Betreuungskonzept angestrebt wird.

Gibt es interessante Beobachtungen bezüglich der Inhaftierung von Minderjährigen?
JSB : Das CPT betont die Wichtigkeit einer Trennung von Erwachsenen und Minderjährigen und weist auf die Gefahr von Dominanz und Ausbeutung hin, die sich aus der Missachtung dieses Grundsatzes ergeben kann. Er fordert die Behörden daher auf, das Trennungsprinzip gemäss den Bestimmungen in der UN-Kinderrechtskonvention strikt anzuwenden. In Bezug auf das Disziplinarrecht weist das CPT darauf hin, dass sich die Isolation bei Minderjährigen noch negativer auf ihr körperliches und/oder geistiges Wohlbefinden auswirken kann als bei Erwachsenen. Es unterstützt die Bestrebungen, die Einzelhaft als Disziplinarmassnahme für Minderjährige zu verbieten, schlägt eine Änderung des entsprechenden gesetzlichen Rahmens vor, um diese Praxis künftig vollständig abzuschaffen. 

Was ist mit Personen, die sich im Vollzug stationärer Massnahmen befinden? Sagt der Bericht hierüber etwas aus?
JSB: Ja, und dies ist sicherlich einer der Kernpunkte des CPT-Berichts: Die Tatsache, dass zum Zeitpunkt ihres Besuchs in mehreren Kantonen rund 100 Personen, die sich in einer stationären therapeutischen Behandlung oder einer Verwahrung befinden, in Gefängnissen oder Hochsicherheitstrakten inhaftiert waren, ist für das CPT Anlass zu grosser Besorgnis. Hinsichtlich der regelmässig durchzuführenden Einschätzung, ob eine Massnahme weitergeführt werden muss oder beendet werden kann, wiederholt das CPT seine Empfehlung: Die Schweizer Behörden sollen die notwendigen Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die betroffenen Personen (oder ihre gesetzlichen Vertreter) bei jeder jährlichen Überprüfung ihrer Situation systematisch angehört werden.

Wie behandelte die Schweizer Regierung den Bericht des CPT und welches Fazit ist aus dem Besuch zu ziehen?
JSB: Die Schweizer Regierung hat den Bericht des CPT zur Kenntnis genommen und zu den meisten der dort formulierten Empfehlungen in der Antwort vom 22. Juni 2022 ausführlich Stellung genommen. Wo notwendig konsultierte sie zuvor die zuständigen kantonalen Stellen. 
Die unterschiedlichen Standpunkte der Behörden und des CPT zeigen uns, wie wichtig es ist, unabhängigen Institutionen wie dem CPT die Türen zu Institutionen des Freiheitsentzugs zu öffnen und sich einem kritischen Blick zu stellen. Dies ist für die Entwicklung und das reibungslose Funktionieren des Justizvollzugs von entscheidender Bedeutung. 

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