Sexualstraftaten als Gegenstand einer neuen Empfehlung des Europarats

Praxisentwicklung

Jean-Sébastien Blanc, wissenschaftlicher Mitarbeiter am SKJV

Für den schweizerischen Justizvollzug relevante Empfehlungen

Die Sexualdelinquenz gehört zu den Themen, die von Politik, Justiz und Justizvollzug besonders beachtet werden. Sie steht ausserdem oft im Zentrum der aktuellen Medienberichterstattung. Im Übrigen war die Besorgnis über Sexualstraftaten mit Gewaltanwendung ein starker Treiber dafür, dass im Jahr 2008 infolge einer Volksinitiative die lebenslängliche Verwahrung im Strafgesetzbuch verankert wurde (Art. 64 Abs. 1bis StGB).

Im letzten Herbst hat der Europarat eine Reihe von Empfehlungen zu dieser wichtigen Thematik veröffentlicht, die sich an seine 47 Mitgliedstaaten richten. Obwohl er die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Rechtssysteme betont (von der Definition der Straftaten über die Arten der anwendbaren Sanktionen bis hin zum Schutzalter), unterstreicht er die universelle Gültigkeit gewisser Grundsätze betreffend die Beurteilung oder Behandlung von sowie Interventionen bei Personen, die einer Sexualstraftat beschuldigt werden oder aufgrund einer solchen verurteilt wurden.

Die Empfehlungen des Europarats, die ausschliesslich erwachsene Straftäterinnen und Straftäter betreffen, umfassen zahlreiche Punkte. Insbesondere soll erwähnt werden, dass sie zuallererst den grossen und dauerhaften Schaden anerkennen, den die Opfer, deren engstes Umfeld sowie die Gesellschaft ganz allgemein erleiden. Ausserdem betonen sie, wie wichtig es ist, Rückfälligkeit bei Sexualdelikten durch eine gezielte Risikobeurteilung sowie die Umsetzung individuell angepasster Behandlungen und Interventionen zu vermindern, damit die soziale Wiedereingliederung der Täterinnen und Täter gelingt. Schliesslich wird in den Empfehlungen auch das Risiko betont, dass Personen, die aufgrund einer Sexualstraftat inhaftiert sind, selbst zu Opfern werden, sei dies vor ihrer Verurteilung oder im Strafvollzug. Sie befürworten zudem eine besondere Behandlung oder in manchen Fällen sogar einen getrennten Vollzug, was durchaus das Risiko einer Stigmatisierung birgt oder sogar zu einer Verschlechterung der Haftbedingungen führen kann, wie das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter warnt («Developments concerning CPT standards in respect of imprisonment, Extract from the 11th General Report of the CPT», 2001. Siehe auch mehrere Länderberichte des CPT)

Die Empfehlungen des Europarats, zu dessen Mitgliedstaaten auch die Schweiz gehört, sind rechtlich nicht bindend; dass sie vom Ministerkomitee verabschiedet wurden, verleiht ihnen jedoch ein besonderes Gewicht. Sie haben in erster Linie zum Ziel, die Regierungen auf konkrete Themen aufmerksam zu machen, die im Rahmen der vertraglichen Pflichten der Mitgliedstaaten und zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit anzugehen sind. Im Übrigen kommt es nicht selten vor, dass Empfehlungen des Europarats Fragen im Zusammenhang mit Gefängnissen und der Bewährung betreffen; die 2020 revidierten Europäischen Strafvollzugsgrundsätze sind das bekannteste und am weitesten verbreitete Beispiel dafür.

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Sexualdelikte werden in den Bildungsangeboten des SJKV bereits behandelt

Angesichts der Komplexität einer notwendigerweise multidisziplinären Betreuung sowie der Wichtigkeit einer individuell angepassten Sanktion ist es von zentraler Bedeutung, dass das Vollzugspersonal Zugang zu spezifischen Weiterbildungsangeboten in Bezug auf die Sexualdelinquenz erhält. So empfiehlt der Europarat «angemessene  und fortlaufende» Ausbildungsangebote für das Personal im Vollzug und in der Bewährungshilfe (VIII. Auswahl und Ausbildung des Personals, 34-38). 
In den Ausbildungsangeboten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug (SKJV) wird bereits heute umfassend auf die Problematik eingegangen, und zwar sowohl in der Grundausbildung (6-stündige, obligatorische Unterrichtseinheit) als auch in der Weiterbildung (Modul «Paraphilien» innerhalb der Weiterbildung «Psychisch auffällige Gefangene»). 
Auch ausserhalb der Bildungsbereiche beschäftigt sich das SKJV mit Themen, die direkt oder indirekt mit Sexualdelinquenz zusammenhängen, insbesondere im Rahmen seines laufenden Projekts «Harmonisierter Vollzug der Tätigkeits-, Kontakt- und Rayonverbote (Art. 67 ff. StGB)», dessen Ergebnisse im Verlauf dieses Jahres veröffentlicht werden dürften. 
Um mehr über die Thematik zu erfahren, konsultieren Sie die Ausgabe des Magazins #prison-info, die das Bundesamt für Justiz 2021 ihr anlässlich der Veröffentlichung der Empfehlungen des Europarats gewidmet hat.